Leseprobe aus Drachenwandel #2

Leseprobe #1

Schließlich erschien Hangameh in Einar. Ihr innerer Kompass führte sie an Ort und Stelle, wie immer. Seit sie bei Mersan, dem anderen Chronisten von Leotrim, gewesen war, hatte sich viel für sie geändert. Und gleichzeitig nicht. Sie steckte immer noch im Körper einer Achtjährigen, alterte nicht und wusste Dinge, zumindest manchmal. Sie trug ihr langes, braunes Haar offen, bis auf diese einzelne, geflochtene Strähne auf der linken Seite. Ohne erkennbares Muster waren zwölf kleine Perlen in ihrer Mähne verteilt. Die Menschen bewunderten immer, wie die fünf lachsfarbenen und die sieben grünen Perlen hielten und nicht bei jeder Bewegung davonsprangen wie bei einer zerrissenen Kette.

Hangameh blickte aus ruhigen, braun-grünen Augen von einem zum anderen, setzte sich in den Schneidersitz, direkt bei der Feuerschale, und schlug ihre Chronik auf. Ihre Schreibfeder steckte zwischen den Seiten, ohne Schaden zu nehmen. Im Schein des Feuers funkelte sie in allen Farben. Auf der einen Seite wechselte ein erdiges Braun in helles Rot. Auf der anderen Seite ging das Blau in Grün über. Endlich wurde es stiller. Die Bewohner, auch der Rat der Fünf, setzten sich wieder.

„Was ist passiert?«, fragte Hangameh. Artem Jaromir brüllte gleich wieder los. Hangameh hob die Hand, das brachte ihn aber nicht zum Schweigen. 

»Kann mir jemand die Ereignisse schildern, ohne zu schreien? Und was wurde am Ende beschlossen?«, fragte Hangameh. 

Tig atmete tief durch. Es gab Tage, da hasste er es, der Vorsteher von Einar zu sein. Heute war so ein Tag. Warum mussten es ausgerechnet die Jaromirs sein?, fragte er sich. Aber da lag das Übel wohl begraben. Die Söhne der anderen Familien bedrängten keine Mädchen, bis diese sich mit einer Harke wehren mussten. 

Er hob die Hände. Ruhe kehrte ein, Menschen und Drachen setzten sich und Tig erklärte der Chronistin von Leotrim, was genau passiert war. Die Feder Nestor, die zu Beginn seiner Erzählung noch reglos auf dem Papier gelegen hatte, schrieb mit. Selbstständig. Hangameh sah zu Tig und immer mal wieder in ihre Chronik, als wollte sie prüfen, ob ihr Nestor alles richtig verstanden hatte.

„Notwehr«, sagte sie am Schluss und nickte. »Will das Mädchen noch irgendetwas dazu sagen?« 

»Wo ist sie überhaupt?«, fragte Artem und sprang auf. 

»Weg«, sagte Nora kalt. 

»Was?« Artem sprang auf sie zu. 

»Willst du mich jetzt auch würgen und schlagen? Hier, vor allen Leuten? Das wird eine kurze Ratssitzung.«

Tig schob sich zwischen die Streitenden. Artem war ein Bär von einem Kerl. Breitschultrig, leicht übergewichtig, größer als die meisten im Dorf. Und Tig war nicht mehr der Jüngste. Dennoch schob er den Mann bestimmt beiseite. »Hör auf, Artem. Die Sache ist erledigt. Es war Notwehr. Geh nach Hause und pflege deinen Sohn. Er hatte einen schweren Tag heute.«

»Du sagst mir nicht, was ich tun soll!«, zischte Artem. Er hatte kaum bemerkt, wie er zurückgeschoben wurde, und trat nun wieder einen Schritt auf Nora zu. Tig blieb vor ihr stehen und schützte sie mit seinem Körper. 

»Genug jetzt!«, rief Hangameh. 

Artem drehte sich zu ihr um. Sie saß auf dem Boden, im Schneidersitz, nahe der Feuerschale. Die Scheite waren heruntergebrannt, niemand hatte Holz nachgelegt. Die Asche glühte noch schwach.

„Du sitzt hier und stiehlst mir meine Zeit!«, rief er. Artem stand breitbeinig da, beugte sich zu ihr hinab und starrte sie wütend an. »Das Mädchen hat sich einfach davongemacht und was schreibst du da hinein, in dein Buch? Über meinen Sohn? Wer gibt dir das Recht dazu, irgendwas über meine Familie aufzuschreiben?«

»Ich bin die Chronistin von …«

»Es ist mir völlig egal, wer du bist. Mein Bartosch hat nichts Unrechtes getan. Wag es nicht, da hineinzuschreiben, er sei ein Verbrecher und das Mädchen habe sich nur gewehrt. Sie wollte es so, sie hat ihn ermuntert. Sie ist dauernd um ihn herumscharwenzelt.«

Der Ratsdrache, ein Flieger, so dunkelblau wie das tiefe Meer, bahnte sich einen Weg durch die Menge. Er duckte sich unter das Dach, die Männer und Frauen stoben auseinander. »He, was soll das? Spinnst du?«, rief einer und verstummte, als er sah, wer da kam. Roshan gehörte schon viele Jahre dem Rat an und hatte viel gesehen. Aber dass einer die Chronistin anbrüllte, das gab es noch nie. Vorsichtig, als wären alle im Rondell aus Glas, schob er sich vor, mit angelegten Flügeln. Schließlich stand er neben der Chronistin und stieß Artem mit der Schnauze einfach um. Da lag er und zeterte. Die Menge lachte.

Der Drache sagte nichts. Drachen sprechen selten Leotrisch und nur, wenn sie es müssen. Roshan sah nicht ein, jetzt etwas zu sagen, die Sache war klar. Niemand brüllte die Chronistin an, das gehörte sich nicht. Er drehte sich vorsichtig um, sein Schwanz stieß nirgends dagegen, er berührte niemanden, stieß sich nicht, verletzte keinen. Er verließ das Rondell wieder. Die Bewohner kehrten an ihre Plätze zurück. Artem kam mühevoll auf die Beine. Er klopfte sich den Staub von der Leinenhose ab, sein Umhang war hinten schmutzig geworden. Seine Frau kam an seine Seite, wollte ihm behilflich sein, doch er stieß sie barsch weg. »Nicht«, fauchte er. Sie blieb direkt neben ihm stehen, faltete die Hände vor dem Bauch und sah zu Boden. 

„Im Hintergrund tuschelten die Bewohner von Einar. Zerfass hörte, wie ein Mann dem anderen zuflüsterte. »Ich hab gehört, die Chronistin hat in einem anderen Dorf einen Mann im Feuer verbrennen lassen.« Zerfass sah nicht direkt hin, das wäre zu auffällig gewesen. Mit halb abgewandtem Gesicht hörte er die Männer sprechen. Es waren enge Freunde von Artem. 

»Wenn man bei ihr in Ungnade fällt, wird man aus der Chronik getilgt«, mischte sich Robvan gerade in das Gespräch ein. Die beiden anderen drehten sich ihm zu. »Hast du es gesehen? Mit eigenen Augen?«, fragte Maurun. Er war ein untersetztes Bürschchen, das dümmlich aussah, wenn es den Hals reckte, um mit jemandem zu reden, der größer war. Und das war praktisch jeder im Dorf, abgesehen von den Kindern. Robvan stand breitbeinig da, die Hände in die Hüften gestützt. Mit schräg geneigtem Kopf verfolgte er den Zwist zwischen Hangameh und Artem.

„Es ist nicht richtig, dass so ein kleines Weibsbild entscheidet, was hier geschieht. Sie war nicht dabei, was weiß die schon?« Die beiden anderen Männer nickten eifrig. Robvan hatte leise gesprochen, aber Zerfass hörte ihn gut. Er hörte auch, dass Robvan die Frage von Maurun nicht beantwortet hatte. Mehr noch, dass er gar nicht verstand, was passiert war. Der Rat hatte sich auf Notwehr geeinigt. Bartosch war zudringlich geworden, das Mädchen hatte sich gewehrt, mit den Konsequenzen mussten nun alle leben. Bartosch mit zerschlagenem Gesicht. Dania irgendwo, nur nicht hier.

Hangameh entschied nichts, sie ließ sich nur sagen, was vorgefallen war. Sie wertete auch nicht. Zerfass lächelte leicht, weil er es besser wusste. Dieser Unsinn, den sich die Männer da zuflüsterten, außer Hörweite der Chronistin, war Hörensagen und nicht wahr. Er schüttelte den Kopf und sah zu Boden. Er wusste, wie es war, in Ungnade zu fallen. Er war noch hier, besaß noch sein Gedächtnis. Er war nicht verbrannt und auch nicht aus der Chronik herausgestrichen worden. Ganz im Gegenteil. Er wusste, dass alles detailliert in der Chronik stand. Wie er einen Drachen mit einem Messer verletzt hatte. Norwin konnte schon vorher nicht fliegen, sein Flügel war deformiert. Das machte keinen Unterschied. Zerfass hatte überlebt, aber seine rechte Hand eingebüßt. Ein Messerstich, ein Biss und nun war sein Leben beschissen, so eingeschränkt. Manchmal träumte er von dem Tag und hörte das Geräusch, ein dumpfes Knacken. Norwin hatte seine Hand einfach gefressen. Wenn Zerfass mitten in der Nacht aus diesem Traum hochschreckte, lag er schweißgebadet in seinem Nest. Er konnte sich nicht einmal beide Ohren zuhalten, mit nur einer Hand. Das Geräusch war in ihm, wie sehr er seine Augen auch zukniff und wie viele Stofffetzen er sich in die Ohren steckte, es knackte.

Zerfass vermisste seinen Drachen. So wie er seine rechte Hand vermisste. Er war innerlich und äußerlich amputiert und jeder konnte es sehen. Aber er war noch hier. Nicht verbrannt, nicht ausgestoßen. Nicht völlig. Er wurde geduldet, er durfte leben. Es gab Tage, da war er froh und dankbar. Und es gab Tage, da lag er im Stroh, zusammengekauert und bitter, wütend über den Verlauf der Dinge. Aber nicht Hangameh hatte ihm das angetan. Wenn er ganz ehrlich zu sich war, und das war er selten, dann musste er zugeben, dass er sich das selbst angetan hatte. Er ganz allein. Aber dann schüttelte er den Kopf, schüttelte die Schuld ab und schimpfte auf den verdammten Imker und seine Tochter. Und vor allem auf diesen Bengel mit dem verkrüppelten Drachen. Die Nachricht war bis zu ihm gedrungen. Genau dieser Drache war der neue Kindshüter. Der Drache, der sich um alle Übrigen kümmert. Ich bin übrig, dachte Zerfass voller Selbstmitleid. Wer sieht nach mir?

Mit ihnen hatte der Anfang vom Ende begonnen. Nichts war ihm geblieben. Keine Farbe der Zugehörigkeit, kein Drachenbruder, kein Salz. Er lebte von der Hand in den Mund. Und bis heute fühlte sich seine Linke falsch an. Vermutlich stand selbst das in der Chronik. Hangameh wurden die Ereignisse von vielen Seiten zugetragen, sie wusste Bescheid. Es war gut, dass er so weit hinten stand, vermutlich würde sie ihn erkennen, wenn sie ihn sah. Er könnte zu ihr gehen und verlangen, seinen Eintrag zu sehen. Er könnte verlangen, dass sie ihn anhören und seinen Eintrag ändern sollte. Er hatte nur nichts zu seiner Verteidigung zu sagen. Ob sie mich anhören würde?, fragte er sich. Doch er kam mit leeren Händen. Was sollte das bringen?

Und diese Männer, die klangen ganz wie er, früher. Robvan und Maurun, dieser Speichellecker. Und der Dritte. Adrijan. Artem und er waren Cousins. Der gleiche Schlag.

»Ich finde, wir sollten was tun. Artem kann das nicht auf sich sitzen lassen. Diese ganze Sache«, sagte Adrijan gerade. Er gestikulierte vage in Hangamehs Richtung. »Der arme Bartosch«, fügte er noch an. Er klang aber nicht mitfühlend. Eher wie jemand, der sich bereit machte, in eine Schlacht zu ziehen.

Zerfass sah nun doch zu den Dreien hin. Er amüsierte sich über ihre Ansichten. Gleichzeitig wollte er unbedingt und endlich wieder irgendwo dazugehören. 


Ende der Leseprobe

  • Drachenwandel
  • Band 4 der Reihe „Das Drachenvolk von Leotrim“
  • C. M. Hafen
  • eBook, 342 Seiten
  • O’Connell Press, 2023

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