„Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du dir wüschen?“
Dominik zuckte mit den Schultern. Er war blass, hatte dunkle Ringe unter den Augen und starrte aus dem Fenster. Anna deckte ihn zu, Dominik hatte wieder kalten Schweiß auf der Stirn.
Anna sah nicht besser aus. Sie schlief schlecht und zu wenig. Diese ewigen Krankenhausaufenthalte machten sie mürbe. Aber zuhause konnte sie ihren Sohn nicht versorgen. Sie wusste, sein Wunsch war es, nach Hause zu dürfen. Aber ihr zuliebe sprach er das nicht aus. Traurig sah sie ihn an.
„Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich fliegen wollen“, sagte Dominik mit dünner Stimme und blickte seine Mutter direkt an. Ihre Knie wurden jedes Mal weich, wenn er sie so anschaute.
„Fliegen?“, fragte sie und war erleichtert. Das war etwas, dass sie vielleicht bewerkstelligen konnte. In ihrem Hirn rumorte es. Sie überlegte, was der Arzt sagen würde. Dieser Wunsch nahm in ihrer Fantasie Gestalt an, sie hatte einen guten Freund, der einen Segelflugschein besaß.
„Das müsste möglich sein“, überlegte sie laut. „Erinnerst du dich an Andi?“
„Dieser Öko-Typ?“
„Ja“, lachte sie. „Dieser Öko-Typ.“ Lachen fühlte sich in Dominiks Gegenwart immer seltsam an. Sie hielt eine Hand vor ihren Mund, als müsste sie aufstoßen. Ihr Gesicht wurde wieder ernst.
„Der Öko-Typ kann fliegen. Ich könnte ihn fragen, ob er dich mitnimmt.“ Anna hoffte auf ein Lächeln, auf den Optimismus, den Dominik in den letzten Jahren ausgestrahlt und der ihr Kraft gegeben hatte. Sie brauchte dieses Lächeln. Aber Dominik blieb ernst. Es fehlte ihr so sehr.
„Ich habe nicht an ein Flugzeug gedacht“, begann Dominik.
Anna erschrak. Dominik hatte so viele Fragen über den Tod, über das Leben danach, wohin man dann kommt und ob es Engel gibt. Sie hatte keine Antwort, an Gott glaubte sie schon lange nicht mehr.
„Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir Adlerschwingen wünschen. Sie würden groß und majestätisch aus meinem Rücken wachsen.“ Dominiks Stimme wurde brüchig.
Anna setze sich, ihr Herz zog sich zusammen und sie musste ihre Tränen zurück halten. Dominik sollte sie nicht weinen sehen, dass hatte sie sich geschworen.
„Meine Flügel wären rot, pulsierend, wie das Leben“, flüsterte er. Das waren nicht die Worte eines zwölfjährigen. Zwölf ist er schon lange nicht mehr, dachte Anna. Dafür hat er zuviel durchgemacht.
„Ich würde mich erheben, meine Flügel spreizen und fliegen. So weit und so hoch, bis ich mit den Fingerspitzen den Himmel berühren kann. So hoch würde ich fliegen, Mama.“
„Willst du zu einem bestimmten Ort?“, fragte Anna mit kratziger Stimme.
„Nein. Aber ich würde dich mitnehmen. Ich würde dich festhalten, ich wäre dann stark genug dazu. Wir würden über das Wasser gleiten, der Wind zerzaust unsere Haare – in meinem Wunsch hätte ich Haare – und wir würden uns im Wasser spiegeln und lustige Grimassen schneiden.“ Dominiks Augen glänzten. Da war das Lächeln, ganz zart nur, aber es war da, so wie früher.
„Das klingt schön, Dominik.“
„Rote Flügel, Mama. Es müssen rote Flügel sein.“
Jetzt liefen die Tränen doch. Der Klos im Hals schmerzte bis rauf zu den Ohren. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er in einem Schraubstock stecken.
Dominik schlief ein, beim monotonen Geräusch der piepsenden Apparate.
Anna ließ seine Hände los, richtete ihr Haar zurecht, als hätte wirklich der Wind darin gewühlt und ging vor die Tür. Sie atmete tief durch, trocknete die Tränen mit einen zerschlissenen Taschentuch und sah Dr. Veith auf sich zukommen. Ihr Herz tat entsetzlich weh. Wie viel noch, fragte sie sich.
Dr. Veith gab ihr lächelnd die Hand.
„Frau Krafner“, begann er.
„Ja?“, fragte sie zittrig. Sie wollte sich setzen, aber im Flur stand kein ein Stuhl.
„Ich habe gute Neuigkeiten.“
Anna hob beide Hände zum Mund. Sie unterdrückten den Drang an den Nägeln zu kauen.
„Dominiks Blutwerte sind da. Es sieht gut aus. Die Zahl der roten Blutkörperchen ist angestiegen. Die Behandlung schlägt an!“ sagte er ruhig und umfasste Annas Oberarme. „Dominik ist auf dem Weg der Besserung. Bald können sie ihn mit nach Hause nehmen.“
„Rote Flügel“, schluchzte Anna und Dr. Veith verstand kein Wort. „Er hat sich rote Flügel gewünscht, pulsierend rot.“
Ein Kommentar zu „Vom Fliegen und anderen Träumen“