Leseprobe aus Drachenwandel #2

Leseprobe #1

Schließlich erschien Hangameh in Einar. Ihr innerer Kompass führte sie an Ort und Stelle, wie immer. Seit sie bei Mersan, dem anderen Chronisten von Leotrim, gewesen war, hatte sich viel für sie geändert. Und gleichzeitig nicht. Sie steckte immer noch im Körper einer Achtjährigen, alterte nicht und wusste Dinge, zumindest manchmal. Sie trug ihr langes, braunes Haar offen, bis auf diese einzelne, geflochtene Strähne auf der linken Seite. Ohne erkennbares Muster waren zwölf kleine Perlen in ihrer Mähne verteilt. Die Menschen bewunderten immer, wie die fünf lachsfarbenen und die sieben grünen Perlen hielten und nicht bei jeder Bewegung davonsprangen wie bei einer zerrissenen Kette.

Hangameh blickte aus ruhigen, braun-grünen Augen von einem zum anderen, setzte sich in den Schneidersitz, direkt bei der Feuerschale, und schlug ihre Chronik auf. Ihre Schreibfeder steckte zwischen den Seiten, ohne Schaden zu nehmen. Im Schein des Feuers funkelte sie in allen Farben. Auf der einen Seite wechselte ein erdiges Braun in helles Rot. Auf der anderen Seite ging das Blau in Grün über. Endlich wurde es stiller. Die Bewohner, auch der Rat der Fünf, setzten sich wieder.

„Was ist passiert?«, fragte Hangameh. Artem Jaromir brüllte gleich wieder los. Hangameh hob die Hand, das brachte ihn aber nicht zum Schweigen. 

»Kann mir jemand die Ereignisse schildern, ohne zu schreien? Und was wurde am Ende beschlossen?«, fragte Hangameh. 

Tig atmete tief durch. Es gab Tage, da hasste er es, der Vorsteher von Einar zu sein. Heute war so ein Tag. Warum mussten es ausgerechnet die Jaromirs sein?, fragte er sich. Aber da lag das Übel wohl begraben. Die Söhne der anderen Familien bedrängten keine Mädchen, bis diese sich mit einer Harke wehren mussten. 

Er hob die Hände. Ruhe kehrte ein, Menschen und Drachen setzten sich und Tig erklärte der Chronistin von Leotrim, was genau passiert war. Die Feder Nestor, die zu Beginn seiner Erzählung noch reglos auf dem Papier gelegen hatte, schrieb mit. Selbstständig. Hangameh sah zu Tig und immer mal wieder in ihre Chronik, als wollte sie prüfen, ob ihr Nestor alles richtig verstanden hatte.

„Notwehr«, sagte sie am Schluss und nickte. »Will das Mädchen noch irgendetwas dazu sagen?« 

»Wo ist sie überhaupt?«, fragte Artem und sprang auf. 

»Weg«, sagte Nora kalt. 

»Was?« Artem sprang auf sie zu. 

»Willst du mich jetzt auch würgen und schlagen? Hier, vor allen Leuten? Das wird eine kurze Ratssitzung.«

Tig schob sich zwischen die Streitenden. Artem war ein Bär von einem Kerl. Breitschultrig, leicht übergewichtig, größer als die meisten im Dorf. Und Tig war nicht mehr der Jüngste. Dennoch schob er den Mann bestimmt beiseite. »Hör auf, Artem. Die Sache ist erledigt. Es war Notwehr. Geh nach Hause und pflege deinen Sohn. Er hatte einen schweren Tag heute.«

»Du sagst mir nicht, was ich tun soll!«, zischte Artem. Er hatte kaum bemerkt, wie er zurückgeschoben wurde, und trat nun wieder einen Schritt auf Nora zu. Tig blieb vor ihr stehen und schützte sie mit seinem Körper. 

»Genug jetzt!«, rief Hangameh. 

Artem drehte sich zu ihr um. Sie saß auf dem Boden, im Schneidersitz, nahe der Feuerschale. Die Scheite waren heruntergebrannt, niemand hatte Holz nachgelegt. Die Asche glühte noch schwach.

„Du sitzt hier und stiehlst mir meine Zeit!«, rief er. Artem stand breitbeinig da, beugte sich zu ihr hinab und starrte sie wütend an. »Das Mädchen hat sich einfach davongemacht und was schreibst du da hinein, in dein Buch? Über meinen Sohn? Wer gibt dir das Recht dazu, irgendwas über meine Familie aufzuschreiben?«

»Ich bin die Chronistin von …«

»Es ist mir völlig egal, wer du bist. Mein Bartosch hat nichts Unrechtes getan. Wag es nicht, da hineinzuschreiben, er sei ein Verbrecher und das Mädchen habe sich nur gewehrt. Sie wollte es so, sie hat ihn ermuntert. Sie ist dauernd um ihn herumscharwenzelt.«

Der Ratsdrache, ein Flieger, so dunkelblau wie das tiefe Meer, bahnte sich einen Weg durch die Menge. Er duckte sich unter das Dach, die Männer und Frauen stoben auseinander. »He, was soll das? Spinnst du?«, rief einer und verstummte, als er sah, wer da kam. Roshan gehörte schon viele Jahre dem Rat an und hatte viel gesehen. Aber dass einer die Chronistin anbrüllte, das gab es noch nie. Vorsichtig, als wären alle im Rondell aus Glas, schob er sich vor, mit angelegten Flügeln. Schließlich stand er neben der Chronistin und stieß Artem mit der Schnauze einfach um. Da lag er und zeterte. Die Menge lachte.

Der Drache sagte nichts. Drachen sprechen selten Leotrisch und nur, wenn sie es müssen. Roshan sah nicht ein, jetzt etwas zu sagen, die Sache war klar. Niemand brüllte die Chronistin an, das gehörte sich nicht. Er drehte sich vorsichtig um, sein Schwanz stieß nirgends dagegen, er berührte niemanden, stieß sich nicht, verletzte keinen. Er verließ das Rondell wieder. Die Bewohner kehrten an ihre Plätze zurück. Artem kam mühevoll auf die Beine. Er klopfte sich den Staub von der Leinenhose ab, sein Umhang war hinten schmutzig geworden. Seine Frau kam an seine Seite, wollte ihm behilflich sein, doch er stieß sie barsch weg. »Nicht«, fauchte er. Sie blieb direkt neben ihm stehen, faltete die Hände vor dem Bauch und sah zu Boden. 

„Im Hintergrund tuschelten die Bewohner von Einar. Zerfass hörte, wie ein Mann dem anderen zuflüsterte. »Ich hab gehört, die Chronistin hat in einem anderen Dorf einen Mann im Feuer verbrennen lassen.« Zerfass sah nicht direkt hin, das wäre zu auffällig gewesen. Mit halb abgewandtem Gesicht hörte er die Männer sprechen. Es waren enge Freunde von Artem. 

»Wenn man bei ihr in Ungnade fällt, wird man aus der Chronik getilgt«, mischte sich Robvan gerade in das Gespräch ein. Die beiden anderen drehten sich ihm zu. »Hast du es gesehen? Mit eigenen Augen?«, fragte Maurun. Er war ein untersetztes Bürschchen, das dümmlich aussah, wenn es den Hals reckte, um mit jemandem zu reden, der größer war. Und das war praktisch jeder im Dorf, abgesehen von den Kindern. Robvan stand breitbeinig da, die Hände in die Hüften gestützt. Mit schräg geneigtem Kopf verfolgte er den Zwist zwischen Hangameh und Artem.

„Es ist nicht richtig, dass so ein kleines Weibsbild entscheidet, was hier geschieht. Sie war nicht dabei, was weiß die schon?« Die beiden anderen Männer nickten eifrig. Robvan hatte leise gesprochen, aber Zerfass hörte ihn gut. Er hörte auch, dass Robvan die Frage von Maurun nicht beantwortet hatte. Mehr noch, dass er gar nicht verstand, was passiert war. Der Rat hatte sich auf Notwehr geeinigt. Bartosch war zudringlich geworden, das Mädchen hatte sich gewehrt, mit den Konsequenzen mussten nun alle leben. Bartosch mit zerschlagenem Gesicht. Dania irgendwo, nur nicht hier.

Hangameh entschied nichts, sie ließ sich nur sagen, was vorgefallen war. Sie wertete auch nicht. Zerfass lächelte leicht, weil er es besser wusste. Dieser Unsinn, den sich die Männer da zuflüsterten, außer Hörweite der Chronistin, war Hörensagen und nicht wahr. Er schüttelte den Kopf und sah zu Boden. Er wusste, wie es war, in Ungnade zu fallen. Er war noch hier, besaß noch sein Gedächtnis. Er war nicht verbrannt und auch nicht aus der Chronik herausgestrichen worden. Ganz im Gegenteil. Er wusste, dass alles detailliert in der Chronik stand. Wie er einen Drachen mit einem Messer verletzt hatte. Norwin konnte schon vorher nicht fliegen, sein Flügel war deformiert. Das machte keinen Unterschied. Zerfass hatte überlebt, aber seine rechte Hand eingebüßt. Ein Messerstich, ein Biss und nun war sein Leben beschissen, so eingeschränkt. Manchmal träumte er von dem Tag und hörte das Geräusch, ein dumpfes Knacken. Norwin hatte seine Hand einfach gefressen. Wenn Zerfass mitten in der Nacht aus diesem Traum hochschreckte, lag er schweißgebadet in seinem Nest. Er konnte sich nicht einmal beide Ohren zuhalten, mit nur einer Hand. Das Geräusch war in ihm, wie sehr er seine Augen auch zukniff und wie viele Stofffetzen er sich in die Ohren steckte, es knackte.

Zerfass vermisste seinen Drachen. So wie er seine rechte Hand vermisste. Er war innerlich und äußerlich amputiert und jeder konnte es sehen. Aber er war noch hier. Nicht verbrannt, nicht ausgestoßen. Nicht völlig. Er wurde geduldet, er durfte leben. Es gab Tage, da war er froh und dankbar. Und es gab Tage, da lag er im Stroh, zusammengekauert und bitter, wütend über den Verlauf der Dinge. Aber nicht Hangameh hatte ihm das angetan. Wenn er ganz ehrlich zu sich war, und das war er selten, dann musste er zugeben, dass er sich das selbst angetan hatte. Er ganz allein. Aber dann schüttelte er den Kopf, schüttelte die Schuld ab und schimpfte auf den verdammten Imker und seine Tochter. Und vor allem auf diesen Bengel mit dem verkrüppelten Drachen. Die Nachricht war bis zu ihm gedrungen. Genau dieser Drache war der neue Kindshüter. Der Drache, der sich um alle Übrigen kümmert. Ich bin übrig, dachte Zerfass voller Selbstmitleid. Wer sieht nach mir?

Mit ihnen hatte der Anfang vom Ende begonnen. Nichts war ihm geblieben. Keine Farbe der Zugehörigkeit, kein Drachenbruder, kein Salz. Er lebte von der Hand in den Mund. Und bis heute fühlte sich seine Linke falsch an. Vermutlich stand selbst das in der Chronik. Hangameh wurden die Ereignisse von vielen Seiten zugetragen, sie wusste Bescheid. Es war gut, dass er so weit hinten stand, vermutlich würde sie ihn erkennen, wenn sie ihn sah. Er könnte zu ihr gehen und verlangen, seinen Eintrag zu sehen. Er könnte verlangen, dass sie ihn anhören und seinen Eintrag ändern sollte. Er hatte nur nichts zu seiner Verteidigung zu sagen. Ob sie mich anhören würde?, fragte er sich. Doch er kam mit leeren Händen. Was sollte das bringen?

Und diese Männer, die klangen ganz wie er, früher. Robvan und Maurun, dieser Speichellecker. Und der Dritte. Adrijan. Artem und er waren Cousins. Der gleiche Schlag.

»Ich finde, wir sollten was tun. Artem kann das nicht auf sich sitzen lassen. Diese ganze Sache«, sagte Adrijan gerade. Er gestikulierte vage in Hangamehs Richtung. »Der arme Bartosch«, fügte er noch an. Er klang aber nicht mitfühlend. Eher wie jemand, der sich bereit machte, in eine Schlacht zu ziehen.

Zerfass sah nun doch zu den Dreien hin. Er amüsierte sich über ihre Ansichten. Gleichzeitig wollte er unbedingt und endlich wieder irgendwo dazugehören. 


Ende der Leseprobe

  • Drachenwandel
  • Band 4 der Reihe „Das Drachenvolk von Leotrim“
  • C. M. Hafen
  • eBook, 342 Seiten
  • O’Connell Press, 2023

Leseprobe aus Drachenwandel #1

Dania. Anderswo


Dania schlug mit Kraft ihre Harke in den feuchten Boden. Die Arbeit ging ihr leicht von der Hand und während sie hier auf dem Feld war, musste sie nicht in der Schule sitzen und über Aufgaben brüten, die sie nicht interessierten. Ihre Schulzeit war bald vorüber, nur drei Prüfungen entfernt. Dania dachte mit einem Lächeln an die Zukunft. Wie herrlich das werden würde. Natürlich, die Freundinnen würde sie vermissen. Aber sie durfte das Dorf endlich verlassen und etwas von der Welt sehen. Ohne in der Morgendämmerung zurückkehren zu müssen.

»Na ja«, sagte sie leichthin und beugte sich hinab, um ein Büschel Unkraut zu rupfen, »wenn mein Drachenmädchen es zulässt.« Sie warf das Grünzeug auf den Haufen, der schon knöchelhoch neben dem Feld angewachsen war. Dania stützte sich auf den Holzstiel ihrer Harke, verschnaufte kurz und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Sie hatte braves, kastanienbraunes Haar, lang und glatt, das sie während der Arbeit immer zu einem Zopf zusammenband. Doch an einem warmen Tag wie heute hielt der Zopf nicht, müde rutschte das dünne Stoffband herunter.

Gedankenverloren strich sich Dania über ihre Haarspitzen, schließlich landete eine Strähne in ihrem Mund. Dania konnte ihre Mutter förmlich schimpfen hören, sie hasste es, wenn Dania an ihren Haaren herumnuckelte wie ein kleines Kind. Doch ihre Mutter war nicht da und Dania konnte genüsslich auf einem Büschel Haare kauen und nachdenken. Sie sah sich um. Ihr Smok, ihre Drachenschwester Ewwa war nirgends zu sehen. Auch sonst niemand, Dania war ganz allein. Sie erwartete auch nicht, Ewwa zu sehen – sie schlief tief und fest, tagsüber. Erddrachen waren sonnenscheu. Und die Sonne brannte. Dania holte ein kleines Tuch aus der Tasche ihres hellbraunen Leinenkleides und wischte sich damit über ihre Stirn. Sie trug keine Schuhe und genoss die kühle Erde unter ihren Fußsohlen. Dania machte weiter. Sie bemerkte nicht, dass in dem nahen Wäldchen jemand im Unterholz saß und sie beobachtete. Dieser Jemand wusste, dass Ewwa in ihrer Höhle die Hitze des Tages verschlief, zusammengerollt wie eine Katze. Erst gegen Abend kam die Drachin aus ihrer Höhle heraus. Dania und Ewwa unternahmen nach getaner Arbeit, wenn alle Schulaufgaben erledigt waren und auch die kleinen Schwestern endlich in ihren Nestern lagen und nicht mehr nach Spiel und Unterhaltung verlangten, lange Streifzüge durch die Gegend. Dania schlief nicht viel, Bartosch hatte den Eindruck, dass Dania diese freie Zeit, die sie selbst bestimmen konnte, hinauszog, indem sie einfach nicht schlafen ging. Sie war müde, tagsüber. Das sah er ihr an. Aber mit einem sonnenscheuen Erddrachen ging es wohl nicht anders. Man muss die Nacht zum Tag machen, dachte der Junge.
Er würde ihr dieses schlechte Benehmen verbieten. Zu gegebener Zeit.

Wenn du erst meine Gefährtin bist, dachte er, dann ziehst du nicht mehr nachts umher, dann bleibst du bei mir. So wie sich das gehört.

In geduckter Haltung schlich er näher, huschte von Baumstamm zu Baumstamm, drückte sich gegen das Holz, als wollte er damit verschmelzen. Er ignorierte seine eigene Aufregung und sorgte sich nicht, sie könnte sein Keuchen hören. Er wusste nicht, dass in der Schule keiner neben ihm sitzen wollte, weil sein schwerfälliges Schnaufen wie der Blasebalg in der Schmiede klang. Selbst wenn er ganz ruhig und unaufgeregt über einer Schreibarbeit saß.
Aber auch ganz grundsätzlich wollte niemand neben ihm sitzen, freiwillig. Für gewöhnlich packte er ein kleineres Kind am Kragen und zwang es neben sich auf die Bank. »Hier bleibst du, bis ich dir sage, dass du gehen darfst!«, sagte er. Bartosch wollte nicht allein sein. Nicht im Unterricht, nicht in den Pausen, nicht bei der Arbeit oder daheim. Seine Brüder machten sich einen Spaß daraus, wegzurennen und sich vor ihm zu verstecken.

Einzig sein Smok, sein Drachenbruder Bokk war auf seiner Seite. Doch als Feuerbringer durfte er nicht in die Nähe der Klassenräume. Wo rote Bänder in den Bäumen flatterten, durften Feuerdrachen nicht landen. Bokk litt immer wieder an Schluckauf und hatte sein Feuer noch nicht vollständig unter Kontrolle. Daher saß Bartosch in allen Schulstunden, die drinnen stattfanden, allein. Wenn Bokk zu Hause ein Malheur passierte, er versehentlich einen kleinen Schwelbrand in der Höhle verursachte oder auf der Kochstelle das Abendessen versengte, dann schlug der Vater erst Bartosch mit der flachen Hand hart ins Gesicht und anschließend dem jungen Drachen mit Fäusten gegen die Brust. Bartosch sah nach oben, suchte mit den Augen den Himmel ab. Er konnte Bokk nicht sehen, aber fühlen, er war in der Nähe.

Dania hätte Bartosch hören können. Doch sie war so in ihre Arbeit vertieft, der Rhythmus dieser monotonen Arbeit nahm sie völlig gefangen. Wenn sie harkte, dann dachte sie nicht an den Abend und ihren Ausflug, nicht an Ewwa oder an die Aufgaben, die ihr die Mutter heute noch auftragen würde. Sie war ganz hier, ganz jetzt. Die drei gebogenen Finger ihrer Harke stießen zu, rupften und zerrten die dunkle Erde auf, sie stieß wieder zu. Es war eine runde, schöne Bewegung, wie Wellengang. Dania hatte das Meer noch nie gesehen.

Bartosch schlich sich an, näherte sich der jungen Frau von hinten. Sie bemerkte etwas, ohne zu wissen, was oder wer es war, und drehte sich um. Sie kam in ihrer Bewegung nicht weit. Bartosch schlang beide Arme um sie wie ein Bär, mit festem Griff, und hob sie spielerisch hoch. Dania schrie erschrocken auf, der Holzstiel schlug Bartosch gegen die Hüfte, er merkte es kaum.
»Hab ich dich«, sagte er und setzte sie ab. Sie drehte sich ganz zu ihm um. Grinsend, verschwitzt und keuchend sah er sie an.

»Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass ich es nicht leiden kann, wenn du das machst.« Bartosch wusste nicht, was sie meinte. Sie hochheben? Erschrecken? Überraschen? Schließlich war sie hier ganz allein, ein Stundenviertel vom Dorf Einar entfernt. Er sah ihr doch an, dass sie sich allein fühlte und Gesellschaft wollte.
»Es ist doch nett von mir, dich zu besuchen. Ein kleines bisschen dankbar könntest du schon sein«, sagte er und fasste sie an den Schultern. Dania schlug seine Hände weg.

Warum bist du so sauer?«, fragte er dümmlich.
»Weil du mich erschreckt hast. Ich habe hier zu tun und will fertig werden. Verschwinde jetzt.«
»Ich könnte dir doch helfen.« Sein Grinsen war verschwunden. Er sah aus wie ein kleines Kind, von der Mutter zu Unrecht ausgeschimpft. Er legte die Hände auf die Hosennaht, besah sich seine schweren Schuhe und überlegte.

Er trug ein rot gefärbtes Leinenhemd, es war ihm zu groß. Dania vermutete, dass schon zwei seiner Brüder es vor ihm getragen hatten, und hatte sofort Mitleid mit ihm.
»Ich brauche keine Hilfe, danke. Geh zurück ins Dorf«, sagte sie und versuchte, versöhnlich zu klingen. Bartosch machte schon immer den Eindruck, als ob er nicht unbedingt das hellste Licht in Leotrim war. Und mit kleinen Kindern, die ein bisschen einfacher gestrickt waren, musste man nachsichtig sein. Ihre Mutter ermahnte sie immer: »Sei nett zu ihm. Er hat es nicht leicht.« Das mochte stimmen. Aber sie hatte es auch nicht leicht mit ihm.

»Ich will aber bei dir sein.« Bartosch sprach ganz leise, starrte immer noch auf seine Schuhe. »Ich kann dir helfen, dann bist du schneller fertig. Und wenn wir erst Gefährten sind, musst du nie mehr allein sein.«
Dania spürte, wie sich Mitleid mit Wut vermischte. Dieses Gerede hatte sie nun endgültig satt.
»Wir werden keine Gefährten. Wie kommst du auf diesen unsinnigen Gedanken, dass ich mein Leben mit dir teilen will? Ich habe noch nie etwas gesagt oder getan, um das auch nur anzudeuten.«

»Du hast niemanden«, sagte Bartosch trotzig. Als wäre es völlig logisch, dass sie deshalb ihm gehören musste. So wie ihm der Ochse im Stall gehörte.
»Und? Ich bin fünfzehn Lenze alt. Ich habe noch Zeit. Vielleicht will ich ja von niemandem die Gefährtin sein.« Sie schob die Unterlippe vor und sah Bartosch trotzig an. Ihre Mutter war auch allein. Ihr Gefährte war abgehauen, hatte sie mit drei Mädchen alleingelassen. Nora Toft war streng, ja. Aber sie war auch stark. Sie brachte sich und ihre Kinder durch und sagte oft: »Wir brauchen niemanden, wir können das alles allein.« Sie suchte keinen neuen Gefährten und lehnte alle Avancen ab. Dania erinnerte sich kaum an ihren Vater. Sie vermisste ihn auch nicht.
Bartosch sah sie mit großen, rot glühenden Augen an. Jetzt war er wütend.
»Es ist nicht richtig, du musst …«
»Nein!«, fiel ihm Dania ins Wort. »Ich habe Nein gesagt. Alles andere geht dich nichts an. Verschwinde jetzt und lass mich meine Arbeit machen. Meine Mutter wird böse, wenn ich so lange herumtrödle und nicht fertig werde.«
Mit der einen Hand umklammerte sie den Holzstiel, mit der anderen schob sie ihn eine Armlänge von sich weg.
Bartosch zögerte. Er dachte nach. Dania konnte sehen, wie sich seine Gedanken zu etwas sehr Ungutem zusammenformten, wie Wolken vor einem Gewitter. Bei früheren Gelegenheiten hatte er mit dem Fuß aufgestampft und gebrüllt: »Das sage ich meinem Vater!« Dania wusste nicht, dass Bartoschs Vater der Meinung war, ein Mann müsse sich nehmen, was er haben wollte. Weil man nichts im Leben geschenkt bekam. Sie wusste auch nicht, dass sie fast jeden Abend Thema beim Abendbrot der Jaromirs war.

Seine Mutter versuchte, Bartosch davon zu überzeugen, dass man ein Mädchen umwerben müsse. Mit Geschenken, Aufmerksamkeit oder eben dem Anbieten von Hilfe. Die Brüder kicherten und lachten ihn aus. »Du findest keine Frau, die dich will«, spotteten sie. Sein Vater aber lehrte ihn andere Dinge. Wenn sie allein im Stall waren, dort die Tiere versorgten und miteinander sprachen, hörte Bartosch nichts von Geschenken und Werbung.
Er schlug Dania unvermittelt ins Gesicht. Eine Ohrfeige, mit der flachen Hand.

»Du tust, was ich dir sage.« Bartosch sprach leise, gefasst, es war die Ruhe vor dem Sturm.
Dania war schon geschlagen worden. Die Hand ihrer Mutter war gnadenlos. Deshalb weinte sie schon lange nicht mehr, wie sehr ihre Wange auch glühte vor Schmerz. Als Kind war sie noch hingefallen, wenn ihre Mutter austeilte. Aber sie war kein Kind mehr. Dania schlug zurück. Bartosch riss die Augen auf, erstaunt, erniedrigt und zornig. Er stürzte auf sie zu, griff mit beiden Händen nach ihrem Hals. Er bekam sie zu fassen, bohrte seine schmutzigen Fingernägel in ihre Haut und zerrte an ihrem Hals, als wollte er ihn wie ein Blatt Papier entzweireißen. Er wollte sie nicht zum Schweigen bringen, er wollte ihr wehtun.

Sie hielt immer noch ihre Harke in der Hand, legte den Holzstiel geschickt auf seine Unterarme und drückte ihn mit beiden Händen nach unten. Bartosch schrie auf und ließ los. Er taumelte nach hinten. Dania hielt ihn mit der Harke von sich fern. Ihre Hände zitterten.
»Ich schlag dich tot«, keuchte Bartosch. »Das darfst du nicht. Mich so behandeln.« Er zeigte auf sich, stieß seinen Zeigefinger bei jedem Wort energisch gegen seine Brust. Speicheltropfen landeten auf Danias Gesicht. Angewidert wischte sie ihre Wange an der Schulter ab. Der Stoff ihres Kleides kratzte. Die Ohrfeige hatte einen roten Abdruck in ihrem Gesicht hinterlassen, seine Fingernägel an ihrem Hals vier Kratzer auf jeder Seite. Schweiß und Blut rannen an ihr hinab.

»Du darfst mich nicht so behandeln!«, schrie Dania. »Ich wehre mich mit allem, was ich habe«, sagte sie und spürte, wie etwas in ihr drin kalt wurde. Die Angst wisperte ihr zu, schnell und eindringlich: »Wenn er dich noch mal schlägt, dann bleibst du dieses Mal nicht auf den Beinen. Und wenn er dich würgt, hört er erst auf, wenn du tot bist!«
Bartosch drängte auf sie zu, mit ausgestreckten Armen. Dania schlug mit Kraft ihre Harke in das dumme Gesicht. Dann rannte sie davon.
 
Es gab ein Vorher. Und ein Nachher. Für Dania und Bartosch, für ihre Familien und viele andere Dorfbewohner.

Ende der Leseprobe

  • Drachenwandel
  • Band 4 der Reihe „Das Drachenvolk von Leotrim“
  • C. M. Hafen
  • eBook, 342 Seiten
  • O’Connell Press, 2023
  • Leseprobe #2

Prolog aus Drachenwandel

  • Drachenwandel
  • Band 4 der Reihe „Das Drachenvolk von Leotrim“
  • C. M. Hafen
  • eBook, 342 Seiten
  • O’Connell Press, 2023
Cover Drachenwandel - Band 4 der Reihe "Das Drachenvolk von Leotrim" von C. M. Hafen

Leotrim ist ein Lebewesen. Keines, das atmet oder blutet. Aber es lebt, ich spüre das. Ich habe aufgeschrieben und aufgezeichnet, was ich gesehen und erlebt habe. Manches kann ich beweisen, vieles nicht, meine Erzählungen müssen ausreichen. Leotrim hat sich mir nie ganz offenbart, doch ein paar Geheimnisse konnte ich entschlüsseln. Mein Wunsch, alles festzuhalten, trieb mich um, ich kroch in jeden Winkel dieses lebendigen Ortes und lernte etwas, das ich nicht erwartet hatte: Loslassen.

Diese Geschichte ist unvollständig, wie es alle Geschichten sind. Wenn das Leben ein Baum ist, mit vielen Ästen und Verzweigungen, mit Sturmschäden, Grünastbrüchen und Mistelbefall, dann kann ich nicht jedem Austrieb folgen, nicht jedes Blatt betrachten. Nun bin ich alt, ich kann nicht einmal mehr in den Baum klettern, um mir einen Apfel zu pflücken. Ich sitze im Schatten und erinnere mich. Setz dich zu mir, ich erzähle dir eine Geschichte.

Das ist nicht das Ende, daher fange ich auch nicht am Anfang an, sondern springe mitten hinein. Ich war sieben Jahre alt, ich war 25 Jahre alt und dann viel älter. In meiner Erinnerung verschwimmen diese Dinge. Was zählt, ist dies: Ich war da. Ich war da, um davon zu berichten.

Ambro Gulur. Kartograf von Leotrim


Och nö du fröhliche!

Och nö du fröhliche!
Cover: Weihnachtsbuch

Liebe Alle,

wir sind gerade dabei ein neues, kleines, wundervolles, toll designtes, witziges und fantastisches Weihnachts-Lesebühnen-Kurzgeschichten-Büchlein zu machen. Das hat wieder so eine super handliche Größe und ist gefüllt mit neuen Kurzgeschichten und Illustration zu Weihnachten und mehr und wird soviel Kosten wie ein Wichtelgeschenk (also 5.- Euro).

Bevor wir in den Druck gehen hier die Frage: wer von euch möchte schon mal seine Exemplare vorbestellen? Letztes Jahr hat eine Firma 300 Stück bestellt und das Werk an alle Mitarbeiter verteilt. Falls du nun die komplette Familie und/oder Belegschaft mit unserem Büchlein beglücken willst, dann sag uns bescheid – wir drucken dann genug, es soll keiner leer ausgehen. Es geht ja schließlich um Weihnachten. Ho ho ho.

www.getshorties.de