Arbeit und Struktur

2016-06-16 18.02.19

 

 

Neulich stellte Mara das Buch „Arbeit und Struktur“ in ihrem Blog vor und ich bin gleich los geflitzt um das Buch zu kaufen, weil das alles sehr gut klang, was sie da schrieb. Ich muss zu meiner Schande gestehen, das „Tschick“ und alles rund um Wolfgang Herrndorf, also seine Bücher, sein Blog und seine Krankheitsgeschichte zur damaligen Zeit völlig an mir vorbei gegangen sind. Irgendjemand Schlaues hat mal über das Internet gesagt, dass man immer nur das findet, was man sucht. Stöbern, Ungeahntes entdecken geht nicht. Das stimmt, und gleichzeitig auch nicht. In meiner Filterblase und in meiner Welt mit Scheuklappen, habe ich das alles nicht mitbekommen. Aber jetzt hole ich es ja nach.

Jedenfalls. Wolfgang Herrndorf schrieb, an einer Stelle, dass dieses Tagebuch, dass er da führt, für seine nächsten Angehörigen eine Zumutung sein muss. Ich dachte im ersten Moment, ja, so ist das wohl, fragte mich aber gleich: Wie wäre es, wenn jemand, der mir Nahe steht, einen Hirntumor hätte? Oder ich selbst? Wie viele Menschen kennt man denn wirklich? Ich meine wirklich, mit allen Ecken und Kanten, alle verborgenen Winkel und dunklen Flecken. Gerade heute, mit unzähligen Filtern, stellen wir uns so gut dar wie möglich, die unschönen Sachen werden wegretuschiert. Ich brauche nur eine Hand um abzuzählen, wie viele Menschen ich in all ihren Facetten kenne. Ich würde all das, was WH da geschrieben hat, wissen wollen, auch wenn es hart und schwer zu ertragen ist. Und so dachte ich beim lesen:

  • Wie gut gehts mir eigentlich? Caro, lass das Jammern sein.
  • Ich muss genauer hinsehen. Überall, alles um mich herum.
  • Ich will schreiben. Vielleicht nicht derart manisch. Aber nicht mehr so faul und zeitverschwenderisch wie jetzt. Wer weiß wie viel Zeit ich (noch) habe?
  • Es ist krass wie genau er sich selbst beobachtet, schonungslos beschreibt was mit ihm passiert, wie es ihm damit ergeht. So wenig Selbstmitleid, so viel Arbeitswut. Er hätte sich auch zusammen rollen und das elendige Ende abwarten können.
  • Ich würde gern, nur einen Tag lang, so viele kluge Dinge denken wie er. 

Ich bin tief beeindruckt davon, wie er sich selbst reflektiert, immer wieder hinterfragt, mit gnadenloser Präzision hinschaut, als wär er ein Kind mit einer Lupe und sein Leben ein kleiner Käfer im Einmachglas. Er schüttelt das Glas nicht, er zermanscht den Käfern nicht. (Noch nicht) Er schaut mit klarem Blick, neugierig, er urteilt auch nicht, stopft sein Tun nicht in Schubladen „Gut“ oder „Schlecht“ oder „Sonstiges“. Er handelt noch etwas Zeit aus und arbeitet. Dieser Käfer, das ist sein Eigentum, darüber will er die Kontrolle behalten, er will entscheiden, wie es mit ihm zu Ende geht.

Ich mag nicht über das Buch urteilen. Auch nicht über seinen letzten Schritt. Üblicherweise lese ich fiktive Geschichten über fiktive Menschen, denen fiktive Dinge passieren. Aber hier ist das anders. Ich habe bewusst wahr genommen; Der Mann ist tot, ich lese sein Vermächtnis. Ich weiß vorher schon wie die Geschichte ausgeht, ich lese „Wolfgang Herrndorf und wie er den Tod kommen sieht“. Darf ich das gut, darf ich das großartig finden? Ist das nicht merkwürdig, wenn ich begeistert Freunden erzähle, das beste Buch seit Jahren gelesen zu haben?

Weil, hier kommen drei fundamentale Dinge zusammen.

  1. WH hat einen Hirntumor.
  2. WH hat die Worte, die Mittel auszudrücken, was ihm passiert.
  3. WH teilt sich mit. Allen, die es lesen wollen. Schonungslos. Ehrlich. Klug.

Ich kann verstehen, dass er seine Tagebücher vernichtet hat. (Würde ich auch tun). Ich kann seine Arbeitswut verstehen; Dinge beenden. Irgendwas beenden, hinterlassen. Nicht untätig herum sitzen. Und dann: In einem Pinguin-Kostüm in der Klapse auftauchen, erscheint mir sehr vernünftig, normal. Wie soll man sich da sonst anmelden?

Himmel, wer bin ich, das zu beurteilen? Ich folge ihm in sein Ende, weniger ängstlich, denn neugierig. Er fragt ja selber: Warum nicht hingucken? Er erlaubt mir den Blick. Und ich bin dankbar, so nah, so intensiv schauen zu dürfen, erfahren zu dürfen wie das ist – ohne selber krank zu sein.

Es gibt Bücher, die ich alle paar Jahre wieder lese. Um meinen Eindruck zu prüfen – ich werde älter, ändere mich, der Blickwinkel auf die Welt verändert sich auch und ich frage mich: Was macht ein Buch, das mich sehr beeindruckt hat, fünf Jahre, zehn Jahre später mit mir? Ich kann sagen, dass ich große Geschichten immer wieder neu erlebe, neu verstehe, anders verstehe, mit den Jahren. Dieses Buch gehört jetzt dazu. Ich bin gespannt darauf diesen Blickwinkel, diese Art die Dinge anzupacken in meinen 40ern, in meinen 50ern noch einmal zu lesen. Es gibt noch viel zu entdecken.

Als nächstes lese ich „Tschick“.

Mr. Holmes

Es gibt gewisse Themen und Geschichten, die sehe ich mir in all seinen Facetten und Erzählweisen an, immer wieder. Peter Pan ist so ein Thema. Und Sherlock Holmes. Serien, Filme, Trickfilme, Bücher. Egal in welcher Darreichungsform. Erstaunlicherweise finden sich nämlich immer neue Blickwinkel und Interpretationen. Manchmal kommen auch nur ein paar Spezial-Effekte und Geschwindigkeit hinzu. Sherlock Holmes ist eine (gefühlt) ewig währende Wiederholung eines Stereotyps. Und mir wird nie langweilig.

Ich habe den Trailer zu „Mr. Holmes“ entdeckt und musste den Film sogleich anschauen.

Ian McKellen ist ein verdammt gutes Argument für den Film. Dieses mal ist Mr. Holmes sein eigener Fall, er ermittelt sein Gedächtnis. Das ist eine schöne Variation, auch mal ein bisschen anders, zudem spricht mich dieses Zusammenspiel „Alter Mann mit neugierigem Jungen“ sehr an. Auch diese Erzählform, Alt und Jung arrangiert sich mit den eingeschränkten Umständen des Lebens, ist nicht neu. Kinder dürfen noch nicht alles, alte senile Menschen können nicht mehr alles. Es scheint, diese Kombination geht immer.

Jedenfalls.

Ian McKellen alias Mr. Holmes lebt nicht mehr in der Baker Street. Die gemeinsame Zeit mit Mr. Watson liegt lange zurück. In dieser Version hat Sherlock Holmes die Bücher seines geschätzten Kollegen nie gelesen. Nach dem Tod seines Bruders Mycroft fallen ihm die gesammelten Werke in die Hände und er beginnt zu lesen.

Im Film werden drei Handlungsstränge erzählt. Als erstes, der alternde Mr. Holmes, der gegen das Vergessen kämpft, der im Exil lebt, mit seiner Haushälterin und dessen Sohn. Der Junge ist clever und neugierig, er hilft dem alten Mann dabei seine Bienenstöcke zu versorgen. Gemeinsam ermitteln sie ein mysteriöses Bienensterben.

Im zweiten Handlungsstrang erinnert sich Mr. Holmes an eine Reise nach Japan, dort war er um eine seltene Pfeffersorte zu finden, die seinen geistigen Verfall aufhalten soll.

Im dritten Handlungsstrang versucht sich Mr. Holmes zu erinnern, wie sein letzter Fall ausgegangen ist. Er las die Geschichte, die Mr. Watson aufgeschrieben hat und ist sich sicher: So ist das alles nicht passiert. Er will die Geschichte erinnern und aufschreiben, mit dem wahren Ende der Geschichte.

Es geht schließlich um menschliche Beweggründe, die sich nicht mit Logik erklären lassen. Ich fand den Film ganz wunderbar, gerade deshalb, weil es nicht um den Fall an sich geht, sondern um die Figur Sherlock Holmes, ohne Spezialeffekte und Brimborium. Natürlich ist er immer noch ein Stereotyp, einer, der versucht zu verstehen warum Menschen das tun, was sie tun. Dafür braucht es keinen scharfen Verstand, sondern Empathie. Und die fehlt Sherlock Holmes, durchweg in allen Erzählformen. Er ist klug, auf analytischer Ebene, aber nicht auf menschlicher.

Hier gegenüber steht Sherlocks Haushälterin, die diesen Part übernehmen soll: Die zwar nicht gebildet, aber bauernschlau ist.

Wie gesagt, das Thema ist alt, der Charakter „Sherlock Holmes“ in hundertfacher Ausführung schon da gewesen. Aber diesmal ist es eben Ian McKellen, dieses mal geht es um Sherlock selbst und das verdammt einsame Leben das er geführt hat – bis zum Schluss. Nicht neu, aber dennoch wirklich hübsch anzusehen.

 

 

Eckdaten:

Mr. Holmes (2015)

Link: Imdb

Ian McKellen, Laura Linney, Milo Parker