#tbt – Marmorkuchen im Regen

Ich erinnere mich gern an meine Mutter. Sie war mir keine gute Mutter und trotzdem erinnere ich mich gern an sie. Vielleicht, weil mir dieser Umstand als Kind nicht klar war.

Als ich fünf war, hat sie meinen Geburtstag vergessen. Ich war erst fünf, also habe ich ihn auch vergessen. Aus einer Laune heraus feierten wir ihn dann im März, obwohl ich im Oktober Geburtstag habe. Zumindest glaube ich das heute. Sicher bin ich nicht. Ich habe mit meiner Mutter sehr viele Geburtstage gefeiert, nicht einen am gleichen Tag.

Als ich fünf war und im März feierte, da hat es geregnet. Wir hatten keinen Schirm. Sie lief vor mir, mit langen Schritten, trotz des roten Minirocks. Ich musste gleichzeitig drei machen, um mitzuhalten. Ihre Handtasche klimperte. Ich kannte das Geräusch, meine Mutter hat nie eine Geldbörse besessen. Sie hatte Kleingeld bei sich. Und davon kaufte sie mir ein Stück Marmorkuchen beim Bäcker.

Sie hatte sogar eine Kerze für mich, die sie auf das Stück Kuchen steckte, doch da es regnete, brannte sie nicht.

Das Stück war groß, zu groß für so einen Fünfjährigen wie mich. Ich brach ihn entzwei und aß den Kuchen, in jeder Hand ein Stück. Ich hätte mit ihr teilen können, doch sie war mit meiner Kerze beschäftigt, die nicht brennen wollte.

Ich hastete ihr hinterher, durch die Stadt, im Regen mit Geburtstagskuchen im ganzen Gesicht verteilt. Sie war immer rastlos, ihre Beine schienen unendlich lang, diese fremde Frau so weit weg. Doch es gab einen Moment da waren der Regen unwichtig und der Weg, den wir zu gehen hatten. Da beugte sie sich zu mir herunter, ich legte meine schokoladenverschmierten Hände auf ihre Knie und sah sie an. Ihre Augen, meine Augen und dann wischte sie mir mein Gesicht sauber mit einem Taschentuch, das nach ihr roch. Nach Marmorkuchen im Regen. Als ein Gesicht sauber war, küsste sie mich auf den Mund und ich lächelte.

Es war immer nur ein kurzer Moment, immer nur dann wenn ich Geburtstag hatte. Manchmal glaube ich, sie hat mit mir jede Woche gefeiert. Ich weiß es nicht genau.

Ich weiß nur, dass, wenn sie aufstand und ihre Knie abwischte, sie mich wieder verlassen hatte.

Das war tagsüber. Abends war sie anders. Ich glaube, ich gehörte damals zu den wenigen Kindern, die die Nacht mochten, die Dunkelheit und keine Angst hatten. Zu denen, die den Tag nicht schätzten. Nachts waren auch ihre Lippen rot, so wie der Minirock. Sie redete viel, lachte und sah mich auch von da oben. Ich redete auch viel, sinnloses Kindergeplapper, aber sie lachte. Mit mir. Doch sie küsste mich nicht. Manchmal streckte ich meine Hand nach ihr aus, wollte das Rot anfassen und sehen, ob es auf meinen Lippen bleiben würde, wie auf dem Toilettenpapier mit dem sie sich nach dem Schminken abtupfte. Doch sie hielt meine Hand fest, mitten in der Bewegung; „Nicht, Anton. Du verschmierst ja alles!“

Als Kind dachte ich, dass ich meine Mutter nachts lieber hätte. Doch nachts kam die Müdigkeit und so sehr ich mich auch anstrengte, ich schaffte es nicht, wach zu bleiben, bei ihr zu bleiben, das Rot anzufassen, zu küssen. Sie verließ mich auch nachts.

Sie kam erst morgens wieder, schlief bis Mittag, ich spielte allein. Manchmal schlich ich zu ihrem Schminktisch, stibitze den roten Stift. Doch abends merkte sie es, immer. Sie schlug mir auf den Handrücken, bis ich ihn heraus rückte. Benutzt habe ich ihn nicht eineinziges Mal. Ich wollte das Rot ihrer Lippen. Nicht das Künstliche aus dem Stift. Ich war ein schlaues Kind, glaube ich. Ich wusste, das Rot allein war es nicht, was sie besonders machte.

Meine Mutter sieht mich inzwischen anders an. Sie kommt nicht mehr herunter in meine Welt. Ihre Augen sind dunkel wie die Nacht. Ich bekomme keinen Marmorkuchen mehr, weil ich keinen Geburtstag mehr übrig habe. Es regnet nicht, keine Küsse.

Ich weiß nicht, wie Alt ich bin, zu alt für sie. Ich schaffe es inzwischen, wach zu bleiben. Ich kann ihr den roten Stift klauen ohne ihn zurück geben zu müssen. Ich kann ihr folgen, wenn sie mich verlässt. In meiner Tasche klimpert es. Ich kenne das Geräusch.

Ich folge ihr in der Dunkelheit zu dem Hotel. Ich warte im Schein einer Laterne, starre das Fenster an, hinter dem ich sie vermute. Manchmal dauert es eine Stunde, länger, bis sie wieder kommt. Wenn ich in der Eingangshalle warte, nicken mir die Männer zu, die meine Mutter verlassen.

Ich würde nicht gehen, aber mich will sie nicht.

Ich nehme das klimpernde Kleingeld und gehe die Treppe hinauf. Ich lege die Münzen auf den Nachttisch neben dem Bett, genau wie die Männer die kommen und sie dann verlassen. Ich kaufe mir meine Mutter. Die dunklen Augen erschrecken, als sie mich sieht.

„Was willst du?“, fragt sie. Die roten Lippen sind unberührt. Nur die Wäsche ist zerrissen.

„Einen Kuss.“

Meine Hände sind schokoladenverschmiert. In dem Stückchen Marmorkuchen in meiner Hand steckt eine brennende Kerze.

„Du hast heute Geburtstag.“

Solothurner Literaturtage