Wenn ein Buch mit den Worten beginnt „Schinkennudeln waren immer mein Lieblingsessen, aber einmal habe ich davon gekotzt.“, dann weiß man eigentlich schon, dass der Rest großartig wird. „Die Modernisierung meiner Mutter“ ist eine Kurzgeschichtensammlung. Das Ganze hat wenig mit „Auerhaus“ zu tun, kann man aber genauso gut lesen. Mindestens. Ich mag diesen leichten, natürlichen Erzählstil. Da wird mir nichts aufgezwungen, ich schlendere ganz gemütlich durch das Universum des Ich-Erzählers.
Das gefällt mir besonders gut: Ich plumpse nicht in eine Geschichte hinein, und muss mich fünf Seiten später neu orientieren. Kurzgeschichten, wie Fotos aneinander gereiht. Eigentlich nicht zusammen gehörend und doch am Schluss: Ein Leben.
Ganz erstaunlich. Jede Seite ist ein kleiner Mikrokosmos, die Geschichten wechseln im Tempo, in der Länge, manche sind nur drei Zeilen lang. Es kommt mir vor, als hätte ich an einem gemütlichen Sonntagnachmittag das Familienalbum eines guten Freundes angeschaut. Alles ist ganz vertraut, und doch entdeckt man überall noch etwas und noch etwas.
There is Waldo!
Keller aufräumen. Das heißt: endgültig sesshaft werden
Der Ich-Erzähler berichtet davon, wie er von Schinkennudeln kotzen musste, wie es kam, dass im Dorf eine Druckkopfampel aufgestellt wurde, wie aus dem Bomben-Klaus ein Kopfschuß-Klaus wurde, oder wie seine Mutter den Führerschein machte. Ich habe ein paar mal herzlich gelacht und mich wieder erkannt: Die Erforschung des Paternosters wäre mir auch ein dringendes Bedürfnis. Bov Bjerg zu lesen ist so einfach wie einen Bildband anzuschauen. Und diese Leichtigkeit haben nicht viele deutschsprachige Autoren. Ich hätte gern mehr davon.
Frieder hat versucht sich umzubringen. Das ist die Handlung von „Auerhaus“.
Vier Jugendliche ziehen in ein altes Haus mitten im Dorf. Vier, später sechs, Aussenseiter. Halberwachsene, die nirgends hin gehören, die keiner will. Die kümmern sich nun um einander. Frieder, mit dem Stigma „Selbstmörder“ vereint sie alle, wie es scheint auch sehr Willkommen. Die anderen schlüpfen aus ihrem alten Leben, raus aus dem Haus der Eltern, so wie man aus kaputten Schuhen schlüpft.
Kaputt sind sie alle, auf ihre Art. Und zunächst funktioniert das neue Leben, die neue Freiheit gut.
Der Erzähler Höppner Hühnerknecht, verkörpert den Gedanken;
Sind wir nicht alle ein bisschen Frieder?
Seine Gedanken kreisen ums Abhauen, weit weg von Schule, Bundeswehr und irgendwas mit Zukunft. Einen Plan hat er nicht. Genau genommen weiß er nur, was er nicht will. Dieses vorgeschriebene Leben: Birth. School. BummBumm. Work. Death.
Sie alle zusammen müssen erwachsen werden, auch wenn sie alles tun um das hinaus zu zögern. Es war ein Genuss ihnen dabei zuzusehen. Auerhaus hüpft mit leichtem Schritt auf Platz 1 meiner Lieblingsbücher 2016.
Achtung, Spoiler.
Und dann war da dieser eine Satz. Nicht die Erklärung, nicht die Begründung für alles. Nur eine Ohrfeige, die mich denken lässt: Könnte ich doch nur begreifen, was da passiert ist.
Normalerweise ist „mitdenken“ eines der Attribute, die ich mir ohne Arroganz auf die Kann-ich-gut-Liste setzen kann. Das hier habe ich nicht kommen sehen. Höppner hat mich kalt erwischt.
BüchertischMein Lese-Jahr 2016 fängt schon sehr gut an. Am 11. Januar bin ich gleich eingestiegen mit Morgen mehr von Tilman Rammstedt. Das liest sich wunderbar und leicht, jeden Tag beginne ich mit einer Email und kichere noch vor dem ersten Kaffee vor mich hin. Die Figuren sind mir schon so nah als würde ich sie kennen und die Bilder und Gefühle, die Tilman in mir weckt, nach gerade mal zwei kurzen Wochen, lassen mich freitags laut ausrufen: Ich will mehr! Heute.
Aber Samstag und Sonntag macht der gute Mann Pause. Ich bin sehr froh, dass ich noch WOCHEN vor mir habe, mit Vater, Mutter, Dimitri und wer da eben alles noch dazu kommt. Ich hatte lange nicht mehr so viel Spaß am lesen. Zuletzt dachte ich, ich finde keine guten Bücher mehr, die mich begeistern.
Letzte Woche habe ich mit den Jungs der get shorties Lesebühne eine Lesung in der Buchhandlung Wittwer, in Stuttgart gemacht. Ich war viel zu früh da, wie immer, und stöberte so durch die Stockwerke, in die verschiedenen Abteilungen. Um die Schreibwaren habe ich einen Bogen gemacht, dort finde ich immer was, und ich habe noch SO VIELE Notizbücher zuhause, die darauf warten, dass ich sie endlich voll schreibe, dass ich mir selbst verboten habe, weitere zu kaufen. Vorerst.
In der Buchhandlung nahm ich dann „Auerhaus“ in die Hand. Im Netz habe ich das orangefarbene Buch schon diverse Male gesehen, dachte aber jedes Mal: Selbstmord? Will ich so ein schweres Thema?
Ich nahm es also zur Hand und las die erste Seite. Die Kasse stand nur zwei Meter neben dem Regal, das ist doch Absicht! Jedenfalls, mit Seite 2 stand ich vor selbiger, zahlte und noch im Lesen suchte ich mir einen gemütlichen Platz in der Rolf-Benz-Lounge. Lümmel-Sofas hat es da. Ohne Witz, da ist es gemütlicher als bei mir daheim. Ich las also, vor meiner eigenen Lesung, die ersten 50 Seiten weg.
Lesung in der Buchhandlung, Wittwer
Das orangefarbene Buch ist wirklich hübsch, Ausstattung, Schrift, Layout. Ich bin Legastheniker, ich habe wirklich Mühe mit alten Flohmarktbüchern, wenn die Schriftgröße 10 und der Zeilenabstand null beträgt, und der Text so auf der Seite verteilt ist, dass kaum Platz für die Seitenzahl bleibt, dann ist der Effekt Ich-sehe-nur-Buchstabensalat besonders schlimm. Dann muss ich oben und unten den Text mit einem Stück Papier abdecken, um die Zeile, in der ich gerade bin, lesen zu können. Hier nicht. Hier ist alles eine Einladung: Lies mich.
Ich mag die Figuren, ich mag die Story, die vier Hauptfiguren waren mir von Seite 1 an sympathisch – wie gesagt, mein Lesevergnügen war lange nicht mehr so groß. Irgendwas hat diese Lese-Challenge mit mir gemacht. Ich habe Lust zu lesen, am Wochenende blieb der Fernseher aus, weil meine aktuelle Lektüre mich sehr begeistert.
Jedenfalls. Bov Bjerg hat einen leichten Stil. Das bedeutet nicht, dass er seicht schreibt. Sondern, dass er ein schwieriges Thema so gekonnt verpackt, dass ich als Leser nur so hindurch husche. Fernsehen und berieseln lassen ist einfach. Lesen, denken, dran bleiben ist (oft) mühevoll. Hier nicht. Ich hab noch das halbe Buch vor mir, und weiß jetzt schon: Es wird mir zu kurz sein. So müssen Bücher sein – ich will nicht, dass sie enden.
Irgendwann musste ich meine neue Lektüre weg legen, weil ich ja selber gefragt war. Frau Dutzmann-Schoch hat sich prima um uns gekümmert, die Handwerker stellten pünktlich zur Lesung ihre Sägearbeiten ein, die Stimmung war supi und die Lesung gut besucht. So mag ich das. Anschließend habe ich noch meinen Buch-Gutschein eingelöst und kam mit einem Meter Literatur nach Hause. Feinerle.