Farewell, Harry

Es ist lange her, da habe ich einen Text für den Tumblr-Blog „1000 Zeichen“ geschrieben. Farewell, Harry. Heute ist nicht Donnerstag, ein kleines #throwback geht aber dennoch. Aus Gründen. 

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Am Tag, als Harry Rowohlt starb, saß ich in der U-Bahn. Mein Handy summte, eine Freundin teilte mir ihr Beileid mit, als hätte ich den Mann persönlich gekannt. Hab ich nicht, betroffen war ich dennoch.

Eine genuschelte Durchsage erklärte, warum wir im Nirgendwo standen, statt irgendwo hin zu fahren, und eine Gruppe Menschen fing an zu singen, in einer Sprache, die ich nicht kenne. Sie klangen fröhlich, und ich hörte zu, war aber zu schüchtern, um mit zu klatschen. Das macht man nicht, das gehört sich nicht, fremde Lieder mit klatschen.

Ich fragte mich kurz, was Harry tun würde. Mitsingen vermutlich.

Manchmal wäre ich gerne mehr wie Pu der Bär und würde ein Gesumm anstellen. Vielleicht sogar einen kleinen Text dazu erfinden. Es steckt aber nur wenig Pu in mir. Ich summe nicht. Ich texte nicht. Manchmal werfe ich einen Ast von einer Brücke ins Wasser, nur um zu sehen, wie er auf der anderen Seite, von der Strömung getragen, wieder auftaucht. Ich brumme. Leise. Brummen geht. 
Farewell, Harry.

#tbt – Mensch ärgere dich nicht

VON CAROLIN HAFEN

Ich sitze im Schneidersitz vor einem Brett „Mensch-ärgere-dich-nicht“. Die Vierjährige meiner Schwester ärgert sich sehr wohl und wirft die Spielsteine gekonnt durch das Wohnzimmer. In Ritzen, Blumentöpfen und unter Möbelstücken findet man die nie wieder. Der Zweijährige ist heute etwas blass um die Nase und kuschelt sich an meine Schulter. Meine Schwester fragt, ob ich nicht mal kurz, sie müsse mal und ist dann weg. Wie die gelben Spielsteine verschwunden, auf Nimmerwiedersehen. Mir wird warm ums Herz; der Sohn hat mich vollgekotzt.
Er wirkt unbeteiligt, sein Gesicht hat den Ausdruck einer leeren Tüte Milch. Er gräbt seine Hände nicht mal neugierig in den Obstbrei, den er auf mir verteilt hat, es ist eher routinierte Gewohnheit.
Der Mann meiner Schwester kommt ins Wohnzimmer und sieht mich.
Ich sage: Igitt, ich habe Kotze im Ohr.
Er lacht. Er lacht und lacht, fällt auf die Knie, wischt sich die Tränen weg.
„Ach, ist das schön!“, sagt er, „wenn’s anderen passiert, dann ist das echt komisch.“

 

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#tbt – Über den Wolken

VON CAROLIN HAFEN

Ich saß im Flieger neben meiner Tante. Nicht auf dem Weg in den Urlaub, sondern zu einer Beerdigung nach Berlin. Eine Frauenstimme begrüßte uns an Bord, und erzählte uns das Übliche; Willkommen, planmäßig, guten Flug, blablabla.
Ich dachte: Oh cool, eine Pilotin.
Meine Tante brummte missmutig: „Eine Frau? Dass sich die blöden Weiber überall reindrängen müssen.“
Ich hatte keine Worte dafür und sah sie entsetzt an. Wir schwiegen uns eine Weile an und ließen die Sicherheitsanweisungen über uns ergehen.
Wir sind wohl erst in einer gleichberechtigten Welt angekommen, wenn Menschen wie ich nicht mehr denken: „Oh cool, eine Frau“ und Menschen wie meine Tante nicht mehr denken: „Blöde Weiber“. Es sollte uns gleich sein, wer da fliegt.

Tags zuvor schon bat sie mich, neben ihr zu sitzen und ihre Hand zu halten, weil sie Flugangst hat. Also nahm ich ihre schweißnasskalte Hand, als es los ging, tätschelte noch kurz ihren Unterarm und flüsterte: „Hättest du auch Angst, wenn ich die Kiste fliegen würde?“

 

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#tbt – Facebook-Märtyrer

VON CAROLIN HAFEN

 

Ich bin ein guter Mensch und du nicht. Ich teile sinnlose Botschaften mit einer selbst ausgedachten Interpunktion: Tierschutz, Depressionen, Brustkrebs, Petitionen aller Art. Ich verändere die Welt an meiner Pinnwand. Der Mensch ist das Schlimmste, was der Erde passieren konnte. Aber nur 3% der Menschheit können das erkennen. Du wirst in deiner grenzenlosen Dummheit & Arroganz diesen Beitrag weder anklicken noch teilen. An dieser Stelle bitte die 27 Ausrufezeichen beachten! Du wirst mir nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken, die ich verdient hätte. Wärst du ein guter Mensch, würdest du meinen Beitrag anklicken, ausdrucken, anmalen und eingerahmt neben die Fotos deiner Lieben hängen. Ich beobachte dich, be afraid! Du kannst jederzeit aus meiner Freundesliste rausfliegen. Mit Leuten, die mir nicht gefallen, mache ich das nämlich. Deshalb gehöre ICH zu dem elitären Club der 3%. Wenn du das hier lesen kannst, hast du es geschafft. Du bist immer noch mein Freund. Gratuliere.

Bitte teilen.

 

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#tbt – Die Blumen sind schön

VON CAROLIN HAFEN

 

Ich tappte durch die Fußgängerzone und sah von meinem Handy auf. Der blaue pulsierende Punkt auf meinem Display gab an, wo ich mich befand. ICH hatte keine Ahnung, das habe ich oft.
Ein alter Mann mit gebeugtem Rücken schlurfte an mir vorbei. Er zog einen graualten Blumenkasten hinter sich her. Die kleinen roten Räder waren vielleicht mal Teil eines Spielzeugs. Die Tulpen zottelten im Takt seines mühevollen Gangs. Er hielt die Schnur in der geballten Faust so wie die Pflanzen ihre Blätter fest, mit Verzweiflung gegen das Grau. Fragend sah ich ihn an.
„Ich will was Schönes sehen, wenn ich unterwegs bin, und die Menschen sind es nicht“, bruttelte er. Spontan stimmte ich ihm zu. Ich kann mir auch Schlimmeres vorstellen, als alt zu sein und Blumen durch die Gegend zu ziehen. Also fragte ich:
„Schenkst du mir eine?“
„Eine was?“
„Eine Tulpe. Mein Tag ist grau und blöd.“
Er sah mich lange an. Dann zog er sein Taschenmesser aus der Hosentasche, schnitt eine Tulpe ab und schenkte sie mir tatsächlich.

 

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#tbt – Für immer, das war früher

VON CAROLIN HAFEN

Als wir Kinder waren, schrieben wir krakelig auf Papier, was wir werden wollen, wenn wir endlich groß sind. Als müssten wir nur die Schule überstehen, das einzige Übel der Welt. Wir schmiedeten Pläne, versprachen, uns zu heiraten und ein gutes Leben zu führen. Ich dachte, ich sei clever, und wickelte alles in Folie ein. Wichtiges kam in Klarsichthüllen: Artikel aus der Bravo, meine Belobigung der siebten Klasse, meine Sporturkunde. So auch meine Versprechen an die Welt. Ich habe sie unter eine der Steinplatten hinter dem Gartenhaus gelegt. Ich dachte wirklich, das wäre ein sicherer Ort für die Ewigkeit. Damals war ein Jahr unendlich lang.

Die Folie ist noch da. Das Papier nicht. Die Versprechen, die Pläne und Wünsche haben sich aufgelöst. Ich dachte, ich finde sie wieder, die Ideale der Kindheit, die Schätze und Geheimnisse.

Mein Kopf, mein Hals, die Augen tun weh. Aber mehr lasse ich nicht zu. Ich lege die Steinplatte wieder an ihren Platz. Genug gewühlt in alten Herzensangelegenheiten.

 

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#tbt – Henri

VON CAROLIN HAFEN

Henri ist fünf. Er hat ein Kuscheltier. Eine niedliche Eule.
„Wie heißt denn deine Eule?“, frage ich, wie Erwachsene eben Kinder ausfragen.
Henri schaut mir ernst in die Augen, dann seiner Eule, die er mit beiden Händen fest hält. Er sagt leise: „Huhu.“
„Wie bitte?“, frage ich, weil ich Bobo verstanden habe. Der Siebenschläfer aus dem Kinderbuch wandert noch durch mein altes Hirn.
Henri flüstert seiner Eule ins spitze Ohr: „Sie hört schlecht.“
„Ich höre sehr gut!“, behaupte ich.
„DAS WAR EIN PRIVATES GESPRÄCH!“, brüllt Henri und drückt Huhu an seinen Bauch.
Augenblicklich ist das Bedürfnis geweckt, von Henri gemocht zu werden, auch wenn es keinen verwandtschaftlichen Grund dafür gibt. Und ich will von der Stoffeule gemocht werden, auch wenn es dafür keinen rationalen Grund gibt. So behauptete ich kurzerhand: „Ich kann eulisch sprechen!“
„Kannst du nicht“, sagt er, drückt Huhu aber etwas weniger fest an seinen Bauch.
„Doch. Whoot whoot whoot.“
„Was hast du gesagt?“
„Das war ein privates Gespräch!“

 

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#tbt – Du fehlst

VON CAROLIN HAFEN

Wir waren nie besonders gefühlsdusselig. Zwei Wochen vor deinem Tod habe ich es dir gesagt. Das einzige Mal in meinem Leben. „Ich hab dich lieb.“ Zu mehr war ich nicht fähig. Wir haben uns immer per Handschlag begrüßt und verabschiedet und uns nie im Arm gehabt, kein einziges Mal. Ich kann mich erinnern, dass du mir manchmal den Arm um die Schultern gelegt hast, als ich klein war. Als Kind ging mir nichts schnell genug und ich fragte mich, ob ich je groß werden würde, ob ich je so wie du werden würde.

Ich habe dir in die Augen geschaut und du mir, durch deine colaflaschenbodendicken Gläser. Ich bin nicht groß geworden, Oma. Bin nicht wie du geworden, du bist geschrumpft und irgendwann sah ich auf dich hinab und legte den Arm um dich, ganz beiläufig. Ich hab es dir gesagt, zwei Wochen vor deinem Tod und du hast gar nichts gesagt. Hinter den Gläsern schwammen deine Augen, ich hab‘s gesehen. Ich wünschte, wir hätten ein bisschen mehr Zeit gehabt. Ich wünschte, ich hätte dich besser gekannt.

 

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#tbt – Morgens, halb acht

VON CAROLIN HAFEN

Er hatte lange Haare, trug eine Retro-Sonnenbrille und ne braune Lederjacke. Man würde ein Motorrad erwarten bei dem Aufzug. Aber er fuhr Fahrrad, einen rostigen Drei-Gänge-Geppel.

Ihr gefiel seine improvisierte Lebensart, zusammengetragen aus weggeworfenen Gegenständen anderer Leute. Seine Küche, aus mindestens vier verschiedenen Einbauten unterschiedlicher Farbe, stammte vom Sperrmüll. Die Regale hatte er sich zusammengestohlen aus der Verschnitt-Kiste im Baumarkt, die Ziegelsteine von verschiedenen Baustellen. Bücher und Schallplatten stapelten sich bis unter die Decke. Das Sofa war ein Ausstellungsstück von einem Abholmarkt, es hatte abends vor der Tür gestanden. Ein Bettgestell besaß er nicht, der Lattenrost lag auf dem Boden. Die Matratze, noch aus Kindertagen, war zu kurz für ihn, seine Füße ragten darüber hinaus.

Er besaß kein Handy und hatte keinen Facebook-Account. Sie hatte ihn gegoogelt. Er war in der digitalen Welt nicht existent.

„Spring auf“, sagte er, „ich fahr dich heim.“

 

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#tbt – Familienkram

VON CAROLIN HAFEN

Mein Bruder reicht gerade mit der Nasenspitze über die Tischplatte, als er mit erhobener Faust von unserem Tisch zu dem der Nachbarn tappt.
´Tschuldigung, derf i bei Ihnen mei Kerz’ a´brenna?
Das Ehepaar starrt entgeistert auf das blonde Kind.
Wie bitte?, fragt der Mann höflich in Richtung meiner Eltern.
Meine Mutter, des Hochdeutschen mächtig, übersetzt: Er möchte seine Kerze bei ihnen anzünden.
Aha, brummt der Mann, immer noch ratlos. Was macht man mit einem Kind, das nach Feuer fragt? Darf man dem so nachgeben?
Derf i?, fragt mein Bruder erneut. Das Kinn gereckt, die Faust immer noch zur Kerzen-Revolution erhoben. Die Frau erbarmt sich, und mein Bruder darf endlich. Er strahlt über das ganze Gesicht. Er trägt sein Feuer an unseren Tisch, als wäre es olympisch, meine Mutter würde ihm Gold um den Hals hängen, wenn sie welches parat hätte. Er setzt sich, die Ordnung ist wieder hergestellt, jeder Tisch im Wirtshaus ist mit einer brennenden Kerze ausgestattet, jetzt darf es um das Essen gehen.

 

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