Annette weiß alles besser. Alles, was sie von mir weiß, hat sie sich in wenigen Sekunden zusammen gereimt. Ich bin jung, das ist offensichtlich, auch ohne Brille und sie hat immer Recht. Grundsätzlich.
Jeden Satz beginnt Annette mit den Worten: Ihr jungen Leute… Als würden wir jungen Leute einer anderen Rasse angehören. Ihrem Tonfall nach der Rasse der kinderfressenenden Religionsfanatiker.
Sie weiß, dass ich schreibe, das hat ihr Heiderose am Telefon gesagt. Ich dachte eigentlich, der Umstand, dass ich sie vom Zug abhole, und zu unserem Schreibzirkel fahre, macht die Sache klar. Manche Dinge muss man halt auch aussprechen. Nun sitzt Annette bei mir im Auto. Mit ihr, die universelle Wahrheit.
Ich konnte nicht nein sagen. Heiderose hat kein Auto, die anderen Damen nicht mal einen Führerschein, also fahre ich. Ehrenamtlich. So sieht die Betreuung einer Senioren-Schreibgruppe eben aus.
Es dauerte 30 Sekunden bis ich von Annette genervt war. So lange dauerte es, bis wir endlich los laufen konnten, vom Bahnsteig zum Parkplatz, zu meinem Auto. Sieben ihr jungen Leute hörte ich mir bis dahin an. Der Zug war noch nicht mal angefahren. Da wollte ich sie schon wieder rein setzen und ans Ende der Welt schicken. Orient Express auf Nimmerwiedersehen. Stattdessen beiße ich mir im Geiste in den Arsch für mein Gutmenschentum und nehme mir vor in Zukunft ein Nein-Monster zu sein.
Annette wälzt sich in mein Auto. Es hat Schlagseite, das arme Ding, es leidet mehr als ich.
„Du schreibst also“, sagt sie zu mir, als wir los fahren. Sie hält sich am Griff über dem Seitenfenster fest, sie schwabbelt dennoch in den Kurven bedenklich hin und her. Mit der anderen Hand hält sie ihre monströse Handtasche fest, der Gehstock klemmt zwischen ihr und der Tür. Sie starrt mich von der Seite an.
Hmhm.
Annette fragt nicht, ob ich schon was veröffentlicht habe, oder was ich überhaupt schreibe, könnten ja auch Sachbücher sein.
„…da musst mal was an den Reich-Raschinski schicken.“
Sie meint wohl Reich-Ranicki, aber ich lasse den Klugscheißer mal stecken.
„Ein feiner Mann ist das. Weißt du, warum ich den mag? Der schreibt so kurze Sätze. Hast du MEIN LEBEN von ihm gelesen? So ein gutes Buch. Hast du es gelesen? Lest ihr jungen Leute eigentlich? Lies das Buch!“
Hmhm.
„Weißt du, eine Frau hat dem mal ein Buch geschickt, von sich, der Herr Reich-Raschinski mag sowas! Und dann hat er sie gelobt und sie kam ganz groß raus.“
Hmhm.
„Musst du auch mal probieren.“ Annette plappert weiter.
„Oh ja, prima Idee. Danke für den Tipp.“ Sie ist unempfänglich für Sarkasmus und ich ärgere mich, dass ich mich in dieser Gegend nicht besser auskenne. Was gäbe ich jetzt für einen einsamen Waldweg. Ich liefere Anette brav am Gemeindehaus ab. Die Kursleiterin nimmt uns in Empfang.
Das wird ein langer Tag.