VON CAROLIN HAFEN
Als ich ein Kind war, hat mir mein Opa oft vorgelesen. Selbst dann noch, als meine Eltern meinten, ich sei zu alt dafür. „Um vorgelesen zu bekommen, ist man nie zu alt“, sagte er dann. Er hat nicht lange gefragt, sondern einfach angefangen, einen dicken Schmöker genommen und mit rauer Stimme gelesen. Erich Kästner, Michael Ende, Astrid Lindgren.
Die Tage saß ich im Garten zusammen mit Harry Potter, den ich nun zum vierten Mal lese. Die Sonnenstrahlen lockten mich aus dem Haus und das Seelenheil verlangte nach einer Welt, in der das Gute siegt. Opa Hans saß irgendwo zwischen den Blumen und den blühenden Kirschbäumen und sagte nicht viel. Schon seit einer ganzen Weile hat er keine Worte mehr für uns. Mittags hat er noch Augenblicke, die ihm gehören. Abends verliert er sich oft.
Ich zog meinen Stuhl in seine Nähe und fragte nicht lange, sondern fing einfach auf Seite 1 an. Als meine Mutter mit dem Kaffee kam und mich fragend ansah, sagte ich: „Um vorgelesen zu bekommen, ist man nie zu alt.“
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